Nachtproleten.


Ich komme gerade von einem für Shanghai typischen Business-Event. Mehrheitlich Expats treffen sich zum Lunch mit Anlass in einer netten Exklave, gefühlte Lichtjahre vom eher kantigen Alltag der Stadt entfernt und besprechen…Dinge. Luxus und Büroschwänzen mit Ausrede. Manchmal erliege ich dem hiesigen Businesskasper-Getue ganz gerne. Dekadent und abgehoben, aber tatsächlich wichtig für das Geschäft hier. Guanxi und Klüngel sind schließlich keine ausschließlich chinesische Erfindung.

Hellhörig und leicht panisch, dafür sehr erfolgreich, wurde ich dann aber gegen Ende: ich konnte zwei Einladungen für abendliches Entertainment ausschlagen. Genauer: ein paar Drinks in der Bar Rouge. Eher sehe ich mir ein halbes Jahr die Lindenstraße auf russisch an, als freiwillig einen Abend dort zu verbringen.

Shanghai ist wirklich toll und das Nachtleben einzigartig. Ich kann mir, denke ich weder Puritarismus, Spießigkeit (oder Abstinenz) vorwerfen lassen. Shanghais Nachtleben ist ein riesiges Plus der Stadt. Leider hat sie auch viele: Angeber-Clubs, Aufriss-Schuppen und Arschnasen-Bars. Bar Rouge spielt in dieser Liga ganz weit oben.
Nächtlich Charakterschwache haben hier grundsätzlich die Wahl zwischen zwei Optionen:

  1. Enthemmt: Expat Bars für den lokalen Aufriss
    Meistens in einer der typischen Westlergegenden Shanghais – Bund und Hengshan Lu sind ganz vorn dabei. Meistens gar nicht mal so schick, leben mehr vom Ruf als wirklichem Ambiente: Bar Rouge, Glamour Bar, Zapata’s – die Liste ist lang. Dafür passiert drinnen immer das gleiche: mehrere Rudel notgeiler Expats (meistens, aber nicht ausschließlich Männer) treffen auf einer Horde geldgeiler Locals (meistens und fast ausschließlich Shanghai-Girls).
    Eigentlich könnte es mir ja egal sein, schließlich sind sich ja beide Parteien einig darüber, warum sie da sind. Interessenkongruenz: die einen wollen aufreißen, die anderen abgeschleppt werden. Nur in Sachen Zeithorizont gibt es andere Ansichten: erstere finden ein paar Stunden ideal, letztere den Rest des Lebens. Aber müssen sie ja eigentlich sie unter sich ausmachen.
    Was daran nervt, ist noch nicht mal das Schauspiel an sich – beobachten alleine wäre sogar amüsant, nur: sie ziehen einen immer mit rein. Einmal zur Bar gehen und Drinks bestellen dauert etwa 15 Minuten (es ist immer viel los). 15 Minuten ohne Deckung bedeuten für mich, mindestens zwei anorektische, debil-laszive, chinesische Grinsekatzen auf High-Heels auf Distanz halten zu müssen und für meine Frau, mindestens zwei angetrunkenen, realitätsentfremdeten, dafür sehr lauten Baby-Expats erklären, daß das unmittelbare Beenden ihrer Ehe keine verlockende Option ist.
    Beide Gruppen sind einfach nur furchtbar. Furchtbar peinlich und furchtbar anstrengend. Im Vergleich dazu mag ich die P1-Polokragen samt -Püppchen noch fast gern.

    Bar Rouge: Anzünder AUF die Gäste statt DAVOR wäre lustiger (Quelle: http://www.stay.com)

    Amüsant wie Juckreiz - Partypeople in SH (Quelle: http://www.cityweekend.com.cn)

    Ich habe tief in mich hineingehorcht. Zumindest rede ich es mir ein: nein, ich bin nicht neidisch auf die Jungen und Schönen (gehöre selbst keiner der beiden Gruppen an). Auch nicht mißgünstig ob des Spaßes. Sie nerven einfach.

  2. Ent-erdet: Clubs zum richtigen Protzen für China’s Jeunesse Doree
    In Shanghai allein gibt es 140.000 Chinesen mit mehr als einer Million US-Dollar – die meisten derer haben dieses Geld in den letzten 5-10 Jahren verdient. „Neureich“ ist in Deutschland schon kein Kompliment, fügt man dazu aber noch Chinas wenig verbreitete Liebe zum Understatement hinzu, sind Clubs wie Richbaby, 88 oder M2 keine Überraschung.
    Deppen mit mehr Geld als Geschmack gibt es weltweit. Ich möchte auch keinen Nachmittag im Club 55 in Saint Tropez verbringen – China legt aber noch einen drauf. Hier wird geprotzt, daß Donald Trump noch maßvoll wirkt.

    Understatement im Namen und der Einrichtung: Richbaby (Quelle: travel.asia-city.com)

    M2. Als wenn ein "Muse" Club nicht gereicht hätte (Quelle: http://www.cityweekend.com.cn)

    Was China macht, macht es im großen Stil – mit Geld prahlen ist da keine Ausnahme:

    • Derzeitiger Trend ist der Champagnerkrieg. Mehrfach beobachtet: mehr als 100 Flaschen für 6-7 Leute bestellen. Ultimativer Gesichtsgewinn, wenn Kellner eine Stunde lang Moet anschleppen und man außer Flaschen nichts mehr sieht. Dann ist der Nachbartisch mit überbieten dran.
    • Mindestverzehr kann zu besonderen Anlässen teuer werden: bis zu 150.000 Yuan (15.000 Euro) für einen guten Tisch im M2 an Silvester (nicht mal Chinese New Year)
    • Teuerster Drink auf der Karte im M1NT: ein „Cashbox“. Kostet 35.000 Yuan. Und da ist keine Null zu viel dran.Ich gebe zu: da ist ein sogar ein wenig Neid dabei. Zumindest wohl auf die Millionen. 100 Flaschen Champagner will ich nicht auf dem Tisch.

Vielleicht sollte ich das Ganze einfach chinesischer sehen. Ich mache mal versuchsweise eine Bar auf, in der kein Getränk unter 20.000 Yuan kostet und Gäste die bei sinnvoller Unterhaltung oder in Miniröcken über 20cm erwischt werden, zu jeder vollen Stunde vom Dach geschubst werden. Damit werde ich reich.

Die fünf Tore zur Einzelhandelshölle.


Ich habe das Gefühl, in meinem Leben noch nie so viel einkaufen gewesen zu sein wie hier. Leider spreche ich dabei nicht von Luxusuhren, Kaschmiranzügen oder zeitgenössischer Kunst – ich spreche von Gemüse, Tierfutter und Dosengetränken. Jeden verdammten zweiten Tag stehen wir in irgendeinem Supermarkt und kommen jedes Mal mit einem Einkaufswagen raus, der beladen ist wie ein kurdischer Dorftransporter. Unsere Küchenschränke sehen aus, als wäre morgen Krieg – trotzdem ist irgendwie nie was da.
Einkaufen ist Alltag. In Sachen Alltagseinkäufen teilt sich die Welt der Expats in Shanghai dabei in zwei Lager:

Gruppe A sind Hardcore-Expats die, wenn überhaupt selbst, dann in Westshops einkaufen gehen und chinesische Supermärkte meiden wie Treibsand. Die Luftwaffe in der Armee der Entsendeten – immer schön auf die weiße Uniform achten und die Flughöhe nicht verlassen.

Gruppe B sind Überintegrierte, die meist schon ein paar Jahre länger hier sind und mehr als eine Woche Europa schon nicht mehr ohne Nervenzusammenbruch überstehen. Diese sehen auch mit leichter Verachtung auf Gruppe A herab und sind stolz darauf, im Wetmarket ohne Ohnmachtsattacke einkaufen zu gehen. Wie Fremdenlegionäre, die gerne mal aus reiner Langeweile ein Schaf ausnehmen und häuten.

Ich hoffe, wir liegen genau dazwischen. Wir versuchen, nicht zu Chinas Luxus-Neu-Köllnern zu verkommen, sehen aber durchaus noch Alternativen zu ungekühltem Fleisch in Sommerhitze.

Shanghai ist in Sachen Alltag für Expats sehr komfortabel – außer Apfelwein und Handkäs wenig, was es nicht gibt. Hat natürlich seinen Preis – so oder so. Shanghai ist dabei nicht China, hier hat der Weg zum vollen Warenkorb fünf Tore:

  1. Kaufen wie in den USA oder Europa
    Westliche Marken sind chic – zudem leben 300.000 Ausländer in Shanghai. Supermärkte mit Westangebot gibt es zuhauf. Mit die größte Kette hier in Shanghai ist Cityshop. Alles, was man braucht, um auszublenden in China zu sein. Grünkohl, Maccaroni&Cheese und Tiefkühlpizza von Dr. Oetker.
    Meistens nicht mal unbedingt riesig, aber viel Auswahl aus westlichen Ländern – wie ein REWE Markt, der sein Angebot mit US-Marken aufgemotzt hat. Macht Spaß, ist gegen eventuelles Heimweh wirksames Mittel (hätte nie gedacht, das Zwiebelmettwurst therapeutische Kräfte besitzt), hat aber zwei entscheidende Nachteile.
    Erstens: Rote Beete einfliegen lassen kostet. Meist in etwa mit deutschem Preisniveau vergleichbar, in manchen Fällen aber auch wirklich teuer: Mozzarella für 60 RMB (6,5 Euro), Mandeln für 70 RMB und für den Preis einer Joghurtpalette kann man in Frankfurt ein halbes Jahr parken.
    Zweiter Nachteil ist weniger offensichtlich: die Chance auf Menschen zu treffen, die die eigene Sprache sprechen ist um ein Vielfaches höher. Man gewöhnt sich das hier schnell an. Ein lockeres „die Mastkuh in dem bunten Clownskostüm schafft es doch nie lebendig über die Straße“ bleibt normalerweise ungesühnt, weil einen auf der Straße eh niemand versteht. Bei Cityshop kann man mal sehen, was ein einfaches „das Kind da nervt“ an Reaktionen hervorruft. Deutsches Gezeter vermisse ich nicht

    Wenig Menschen, viel Europa (Quelle: http://www.ecoweb.dk)

  2. Globale Marken in chinesischem Gewand
    Wir lieben Carrefour. Die Franzosen erobern China langsam aber stetig mit großen Hypermarkets. Fünf Minuten von unserem Haus ist ein solcher – es gibt im Grunde alles was man braucht, preislich kein Luxus und bisher haben wir noch keine Lebensmittelvergiftung davongetragen. Was hier wirklich ein Qualitätsmerkmal ist. Jeden Tag bis 22.00 geöffnet und man kriegt hier das beste aus beiden Welten: Kartoffelchips mit Blaubeergeschmack UND Haribo Goldbären. Yeah.
    Carrefour hat die Marke wundervoll ins Chinesische übersetzt: „Jia Le Fu“ – heißt so viel wie Haus der glücklichen Familie. Nachteil ist auch gleichzeitig Vorteil: wer einen Sonntagseinkauf mit Menschenmassen bei Carrefour überstanden hat, kann auch jederzeit als Gladiator arbeiten.

    So sieht es aus wenn nichts los ist. (Quelle: http://www.echinacities.com)

  3. Chinesische Nachbarschaftssupermärkte
    Gibt es an überall und in jeder Hinsicht unauffällig. Super für einfache Dinge wie Gemüse. Einmal die Tüte randvoll machen kostet maximal 20 Yuan (2,2 Euro), sonst viele chinesische Produkte, die sich einem meist nicht erschließen, aber auch irrelevant sind, wenn man nicht gerade authentisch kochen will. Zudem meist geringes Ekelpotential. HuaLin ist ein solcher.
  4. Supermärkte für das wirkliche China.
    Egal ob es Chinaversionen von Westmärkten wie Tesco oder lokale Ketten sind: an manchen Ecken braucht man Nerven – dafür ist ein funktionierender Geruchssinn ein Nachteil. Laut, voll und in Sachen Hygiene eine eigene Liga. Soll sich nicht arrogant anhören, aber auch Freunde von uns, die in dieser Branche arbeiten geben zu, daß es schon ziemlich grenzwertig sein kann.
    Allein der Lärm ist unbeschreiblich: im boomenden China müssen Promotions für Abverkauf und Marktanteil sorgen. Daher stehen im Markt verteilt meist Dutzende Hostessen die Marken und Aktionen anpreisen. Jede von ihnen hat ein Megaphon und keine Angst es zu benutzen. Wo sonst kriegt man einen Tinnitus von Sojamilchwerbung?
    Neuester Trick: Produkte aus dem Wagen nehmen und mit Konkurrenzprodukt austauschen. Dem Vernehmen nach funktioniert es bombig.
    Wirklich widerlich wird es dann an der Fleischtheke. Zwar ist es wenigstens gekühlt, aber in China muss Qualität anfassbar sein – was alle auch ausgiebig tun: Schnitzel rausholen, daran rumdrücken, zurücklegen. Zehn Fleischbrocken betatschen, einen mitnehmen.  Wie es immer noch 1,3 Mrd Menschen hier geben kann, ist mir ein Rätsel und sollte Darwin zu denken geben.

    Taktiles für Fleischfreaks. (Quelle: http://www.timvan.com)

  5. Authentizität vs. Gesundheitsamt: Wetmarkets
    Politisch korrekt geht das kaum. Positives zuerst: Gemüse ist hier wirklich frisch.
    Oft einfach ein paar Stände auf der Straße, manchmal eine kleine Markthalle in der Nachbarschaft. Hier sieht man Westler meist nur mit Kameras. Es gibt alles, was lebt oder mal gelebt hat (auch wenn das manchmal schon ein wenig her zu sein scheint). Ich will ja gar nicht unken: so ein Huhn, das man selbst zum Köpfen ausgesucht hat, schmeckt wahrscheinlich ganz anders. Ich brauche es dennoch nicht. Im Winter geht es ja sogar noch, aber die Geruchskulisse von Fisch neben offenem Fleisch im Sommer bei 41 Grad im Schatten ist überwältigend. Das olfaktorische Äquivalent einer Güterzug-Kollision. Chinesen schwören angeblich darauf – nur Fleisch das ein bisschen gelegen hat ist gut.

Habe perverserweise Hunger vom Posten bekommen. Werde wohl noch kurz einkaufen gehen.

Sprachbehindert.


Sollte es ein chinesisches Pendant zu Thilo Sarrazin geben – er hätte seine Freude an mir. Schlechter als ich kann man sich eigentlich nicht mehr integrieren.
Ich kann nicht lesen, schreiben oder sprechen. Ich lebe in einem Compound voller Expats, hübsch abgegrenzt von chinesischem Alltagsleben. Ich erwarte, daß mein Umfeld im eigenen Land eine Fremdsprache spricht. Wirklich sehr, sehr beschämend das alles.

Seit einem Jahr schon schiebe ich Chinesisch-Unterricht auf die lange Bank. Ich arbeite hier deutlich mehr und länger als in Deutschland – und war eigentlich nicht der Meinung je faul gewesen zu sein. Zeitmangel war daher bisher eine gleichermaßen glaubwürdige, wie bequeme Ausrede. Es wird nun aber langsam wirklich Zeit.

Anlass und Anreiz war heute ein hübsches Schild am Eingang zum Office:

Nicht vergessen!

Urplötzlich kam einer meiner großen sozialen Urängste hoch: als Einziger etwas immens wichtiges zu verpassen. So geht es mir auch schon häufig am Flughafen oder Bahnhöfen – manche Durchsagen verstehe ich ums Verrecken nicht. Mein persönlicher Albtraum ist ein Aufruf wie: „Achtung bitte, wichtige Durchsage an alle Passagiere des Fluges LH524, *krrrgrrscchwss* bitte umgehend *gllugsncge* an Gate *chrrshcre*, sofort!“
Ähnlich ging es mir auch hier. Augenscheinlich etwas, das wichtig genug für zwei Ausrufezeichen ist. Und ich habe keinen blassen Schimmer was. Ich hoffe einfach mal, es heißt nicht „Lebensgefahr: unter keinen Umständen den Fahrstuhl benutzen“.

Natürlich könnte ich locker 2-3 Stunden die Woche dafür aufwenden, endlich Mandarin zu lernen. Es ist aber die Aussichtslosigkeit, die Sprache jemals wirklich beherrschen zu können, die mich zum Prokrastinations-Champion macht. Genauer gesagt die Kombination von Umöglichkeiten:

  1. Die verdammten Töne
    Chinesisch ist bekanntlich keine Wort- sondern Tonsprache. Viereinhalb verschiedene Grundtöne in Mandarin. Sieben in Kantonesisch.

    Namen nicht tanzen, aber singen. (Quelle: Wikipedia)

    Zum Beispiel die Silbe „Ma“

    1. Gleichbleibend hoch. Eunuchenhoch. So heisst es „Mutter“
    2. Ansteigend. Als wäre man sich nicht sicher und fragt lieber noch mal. Dann ist es „Hanf“
    3. Fallend, dann steigend. Wie ewiger Stimmbruch. So heißt es „Pferd“. Mal nebenbei bemerkt heißt BMW hier übrigens Bao Ma – schönes Pferd.
    4. Fallend. Wie volltrunken eine Diskussion am Stammtisch beenden. Heißt dann „schimpfen“
    5. Neutraler Ton. Sprechen eben.Dem Gesichtsausdruck mancher Kollegen nach zu urteilen, habe ich wohl schon mehr als einmal danebengegriffen. Habe schon manchmal auf Mandarin loben oder kommentieren wollen. Möglicherweise habe ich stattdessen ungewollt sexuelle Präferenzen unterstellt.
  2. Die Zeichenflut
    Es gibt insgesamt 87.000 chinesische Schriftzeichen, kaum eine Chinese kennt sie alle – es bleiben aber immer noch 3000-5000 die man für den Alltag braucht. Dafür sehen sie alle gleich aus.

  3. Dialekte
    China ist nicht klein. Innerhalb Chinas sind außer Hochchinesisch noch sieben andere Sprachen offiziell anerkannt. Uigurisch begegnet einem in Shanghai eher selten, dafür sind Dialekte auch schon schlimm genug. Wie Shanghainese. Die Chinesen sind wahnsinnig stolz auf lokale Interpretationen der Sprache und pflegen den Unterschied. Quasi 1,3 Milliarden Bayern. Tatsächlich sind Dialekte hier beinahe eher unterschiedliche Sprachen. Vergleichbar mit Französisch, Spanisch, Italienisch und Baskisch. De Fakto versteht außerhalb Shanghais auch kein Chinese was Taxifahrer hier so vor sich hinbrabbeln.

Kurz: chinesisch lernen ist ein Albtraum der wohl nie endet. Um so bewundernswerter, daß meine Frau dafür schon deutliche Fortschritte macht. Sie kann sich schon unterhalten und Kontexte verstehen. Ich kann nach dem Kellner rufen. Dafür verstehe ich jetzt, wie sich Analphabeten fühlen müssen und wie sie es schaffen, daß es jahrelang keinem auffällt. Zu meinen persönlichen Alltagsbluff-Taktiken gehören:

Nicken und Zustimmung. Ein selbstbewusstes „Dui Dui Dui“ (ja, ja, ja) oder „Hao De“ (Einverstanden) täuscht Souveränität vor. Verneinen kann ich dafür nicht so gut. Irgendwann stimme ich mal versehentlich einer Organspende zu.

Kurzfassen. Chinesen sind die Berliner Asiens. Kurzes Bellen von Worten statt langer Sätze. „Ba Hao!“ (Nummer Acht) ist durchaus gleichsam effektiv wie „Ich würde gerne Zigaretten der Marke Zhongnanhai, Nummer Acht kaufen.“

Nuscheln. Viel hängt ohnehin vom Kontext ab. Ein paar Brocken mit dem richtigen Gesicht zeigen zumindest Grundrichtung an.

Ignoranz. Aus reiner Verzweiflung (und weil auch Chinesen sich untereinander nicht immer verstehen und Englisch oft keine wirkliche Option ist) bin ich in auswegslosen Kommunikationssituationen dazu übergegangen, hessisch zu sprechen. Ich bin eigentlich großer Freund klaren Hochdeutschs und auch kein wirklicher Urhesse, aber für einen aufgebrachten Taxifahrer ist hessisch einfach wunderbar. Lost in Translation erst gestern:

Ich will nach Hause. Also sage ich Straße und Querstraße an:
„Hu Qing Ping Gong Lu, Zhuguan Lu“
„Zhuguan Lu Bu Zhi Dao“ (Strasse kennt er nicht)
„Hu Qing Ping Gong Lu, Yi Wu Yi Qi“ (vielleicht hilft ihm die Nummer)
motzig: „Bu Zhi Dao“
„Hu Qing Ping Gong Lu Kao Xi Zughuan Lu, Yanan Lu Zhongchun Lu Xia“  (Ausfahrt von der Hauptstrasse in verzweifelten Mandarin-Rudimenten)
„Bu Zhi Dao“ Gefolgt von wütendem Gebrabbel und einer Frage offensichtlich
„Horsche ma zu mein Bub. Is mir egal, fahr halt.“
unverständliches Gepöbel
„Vadder, das finden wir schon.“
Aggressives Anfahren. Aber wir kommen an.

Habe mir vorgenommen, es ab nächsten Monat trotzdem mal mit Chinesisch-Unterricht zu probieren. Irgendwann muss ich mal anfangen. Sollte ich das je meistern, versuche ich es danach mit Ungarisch.

Echt jetzt?


In China gibt es viele Fakes. Ach was. Allgemeinwissen und nicht weiter verwunderlich. Hier wird ohnehin alles produziert, was rund um den Globus verkauft wird. Gepaart mit dem unnachahmlichen Geschäftssinn der Chinesen ist es kein Wunder, daß es hier auch einfach die meisten Fakes gibt. Arbeit ist billig und die Maschinen sind ja eh da.

Bevor wir nach China kamen, hatte ich beim Stichwort „Fake-Produkte“ eigentlich nur die üblichen Verdächtigen im Sinn: ne schicke Rolex für 20 Euro oder was nettes von Lacaste oder Ormani. Gibt’s ja auch an jedem europäischen Urlaubsstrand. Kinderkram. Im Vergleich zu Chinas Kopierwut ist ein türkischer Basar ein Flagshipstore von Prada.

Natürlich gibt es auch hier große Marken für wenig Geld – und das in teilweise verblüffender Qualität. Es gibt sogar verschiedene Fake-Kategorien für Luxusuhren:

Kategorie C: Rolex & Co. für 100 Yuan (10 Euro). Sieht nach Uhr aus, sollte man aber nicht anfassen oder gar benutzen wollen.
Kategorie B: Luxus am Handgelenk für 500 Yuan. Sieht ziemlich echt aus und zeigt sogar die Zeit an.
Kategorie A: Fakes von Profis. Sind mit bis zu 3000 Yuan teurer als eine Swatch, kann aber eigentlich auch nur von Experten als Fake geoutet werden.

Uhren, Schuhe, Taschen, DVDs und Laserpointer in Kriegswaffenstärke, bekommt man hier alles in einer der diversen Fake-Markets. Meist eine Ansammlung von 150-200 kleinen Shops die alle die gleichen Produkte verkaufen. Nicht die selben. Die gleichen. Einkaufen im Fake-Market kann richtig Spaß machen – so lange man Gewusel, Gezerre und Feilscherei etwas abgewinnen kann. Für einfache Sachen lohnt es sich. Chucks kriegt man sonst nicht für sieben Euro und halten sogar länger als meine Originale. Was man jedoch beherrschen sollte, ist feilschen. Ich kann es null. Ich bezahle entweder doppelt so viel wie alle anderen oder werde aus dem Laden geworfen, weil ich zu unverschämt eingestiegen bin. Dafür ist meine Frau Großmeisterin im Feilschen – mit einem zuckersüßen Lächeln und eiskalter Freundlichkeit kriegt sie mittlerweile bessere Preise als Einheimische. Das nächste Auto kauft sie.

Leider werden sonst eigentlich ganz freundliche Händler zu Laowai-zerfleischenden Bestien, wenn sie mitkriegen daß man fotografiert. Fotos also aus anderen Quellen.

Fakeville Central. (Quelle: http://www.thatsmandarin.com)

Außer den zu erwartenden Marken, gibt es zudem noch wundervolle Schmuckstücke chinesischen Einfallsreichtums und Handfertigkeit:

Ein Blockberry. Schuhe von Ray Ban. Und natürlich Apple. Gäbe es Apple nicht, müsste die Hälfte der Fake-Markets wahrscheinlich dicht machen. Hier gibt es Produkte, die den Kaliforniern noch was vormachen:

Mini iPhone (Quelle: http://www.bridgat.com)

Maxi iPad. Natürlich "Original Product. Good price!". (Quelle: http://www.chinadaily.com)

Ein Land auf der Aufholjagd und Überholspur gibt sich damit natürlich nicht zufrieden. In die weltweiten Zeitungen hat es der komplett gefälschte Apple-Store in Kunming ja schon geschafft. Erst hier vor Ort aber, begreife ich allmählich die Dimension von Fälschungen. Es gibt nichts, wirklich NICHTS, was nicht gefälscht wird:

  • Kürzlich wurde ein Händler festgenommen, der Erbsen gefälscht hat. Erbsen! Sojabohnen mit billiger und vor allem giftiger grüner Lackierung.
  • Chateau Lafite ist hier der Wein der Wahl, wenn man richtig beeindrucken will. Ultimativer Gesichtsgewinn. In China werden in einem Jahr mehr Flaschen verkauft, als das Chateau in zehn Jahren produziert.
  • Weltweit gibt es sieben Harry Potter Romane. In China gibt es elf.

Ein potenzieller Absatzmarkt von 1,3 Milliarden Menschen ist wohl einfach zu verlockend. Nur für einen Yuan (10ct) an jeden zehnten etwas verscherbelt und es reicht immer noch zum absurd reich werden.

Muss nun los. Äppler gibt es hier nicht – eine Marktlücke die nach Befriedigung und Fakes schreit.

Sing, Baby.


Ich hasse Karaoke. Schon in Deutschland war es nicht gerade meine Lieblingsunternehmung für einen Abend und erst unter Zuhilfenahme immenser Mengen Alkohol überhaupt denkbar.

Hier kommt man leider nicht daran vorbei. Karaoke ist zwar nicht orginär chinesisch aber DER Bringer hier. Geburtstagsparty, Geschäftsgelage oder einfach nur so zum Spaß – ohne KTV geht nichts. Es steht für „Karaoke TV“ und ist im Grunde Betrinken mit Ausrede. In China und insbesondere in großen Städten wie hier in Shanghai. Die Grundausstattung ist schnell umrissen und überall gleich.

Man braucht für ein zünftiges KTV Etablissement:

  1. Platz. Viele der KTVs sind einfach nur riesig. 300 Räume in unterschiedlichen Größen sind schon beinahe Standard. Große KTVs sind wie Riesenhotels ohne Betten.
  2. Marmor. Fucking viel Marmor. Wer Dallas und Denver Clan kennt oder die Standardbehausung arabischer Scheichs, hat schon eine gute Vorstellung davon, wie sie meistens aussehen. Marmor und Gold. Immer protzig, selten hübsch.

    Schon fast puristisch.

  3. Alkohol. Im KTV geht es ums Saufen, singen ist willkommene Nebenbeschäftigung, aber im Grunde egal. Für große Alkoholmarken sind KTVs in China der heilige Gral, an einem normalen Abend gehen sehr, sehr viele Flaschen über den Tisch. Gläser kann man gar nicht bestellen, eine Flasche ist meist Mindestabnahmemenge. Eine Flasche Whisky im KTV ist in etwa ein Pils bei uns – der Anfang.
  4. Mädchen. KTVs gibt es in drei Ausbaustufen: a) singen, b) singen plus Begleitung, c) singen plus „Begleitung“. Ich kenne nur a) und b), angeblich gibt es jedoch, hm, interessante Dienstleistungen in c). Man erzählt mir z.B. immer vom „Flying Helicopter“ – dabei wird eine „Hostess“ wohl kopfüber an die Decke gehängt damit sie fledermaushaft orale Dienstleistungen liefern kann. Ich habe keinen Schimmer wie das gehen soll (und vor allem WAS das soll), aber das ist China. Wirklich wundern tut es mich nicht.
  5. Mama-San. Das ist die Hüterin der Mädchen in der b) und c) Kategorie. Sie sorgt dafür, daß der Laden läuft. Mama-Sans bekommen einen Teil der Miete für den Raum, Provision für Drinks und Mädchen und verdienen viel, viel Geld. Meine chinesischen Kollegen sprechen von sehr deutlich sechsstelligen Jahresgehältern. In Euro.

Abende im KTV sind in erster Linie eines: kein Spaß und sehr anstrengend. Was es glaube ich am schwersten macht, ist neben dem Vertilgen immenser Mengen von Alkohol und der verdammten Singerei auch noch so tun zu müssen, als wäre es ein Riesenspaß. Zwei Tage Zahnarzt sind mir lieber als zwei Stunden KTV. Ein subjektiver Erfahrungsbericht:

Ankommen. Die KTV Räume, die ich gesehen habe, sehen alle gleich aus. Als hätte man einem Innendesigner aus den 80ern einen großen Scheck in die Hand gedrückt mit den Worten „Tob dich aus, aber wehe es ist nicht plüschig oder aus Gold.“

J.R. Ewings chinesisches Wohnzimmer.

Ausstatten. Die Giftauswahl des Abends wird getroffen. Wer Glück hat, bekommt Whisky und Bier. Wer Pech hat, muß den Abend mit chinesischem Wein und Baijiu verbringen. Meistens nehmen sie Rücksicht auf den Laowai (Ausländer) und fragen nach Wünschen, muss aber nicht. Wer bezahlt, entscheidet und ordert für alle.

Aufpeppen. Auswahl der Mädchen. Mama-San bringt Schübe von Mädchen herein und stellt sie vor. Meist stellen sich zehn auf, werden begutachtet, dann kommen die nächsten zehn. So lange bis jeder Gast seine Begleitung ausgewählt hat. Nicht aussuchen ist keine Option wie ich gelernt habe. Das Gesichtsding mal wieder. Die Mädchen sind ausnahmslos jung, schlank bis rappelig und gekleidet wie Teenager auf dem ersten Ball oder farbenblinde Brautjungfern. In den wenigsten Fällen sprechen sie englisch. Manche tragen ein Schildchen auf dem „English speaking“ zu lesen steht, aber meistens sind ihre Englisch- mit meinen Finnischkenntnissen vergleichbar.
Ihre Aufgaben und vor allem ihren Sinn habe ich noch immer nicht verstanden. Meistens hat man eine grenzdebile Jungchinesin neben sich sitzen, die

  • einem Zigaretten anzündet (welch Erleichterung)
  • nachschenkt (was sie oft tut. Sie kriegt Prozente)
  • Obst in den Mund schiebt (auch wenn man Obst offensichtlich hasst)
  • Würfelspiele spielt (eine Art Mäxchen, das immer damit endet dass ich verloren habe und trinken muss)

Manchmal fragen sie dezent nach Familienstand, Einkommen und generellem Wunsch in China einzuheiraten, aber eher selten.

Austrinken. Hier wird druckbetankt. Alkohol wird gleich zu Beginn für alle bestellt. Eine der Hostessen verteilt dann die Flasche auf 20-30 kleine Gläschen, damit beim Nachschenken alle die gleiche Dosis bekommen. Angestossen wird auf ziemlich viel: den Abend. Den Geschäftsabschluss. Angekommen zu sein. Die Freundschaft.  Aufs Singen können. Aufs Nicht-Singen können. Das Mittwoch ist.
An den wenigen Abenden die ich bisher erlebt habe, gehen etwa 3-4 Flaschen Whisky für 5-6 Leute drauf. Und das sind wohl die Wenigtrinker. Manchmal hat man Pech und muss chinesische Erzeugnisse trinken und loben, z.B. den hiesigen Wein. Er kommt in verschiedenen Preisgattungen (200 Euro pro Flasche sind dabei kein Problem), ist oft auf die Optik alter Bordeaux-Weine getrimmt (inklusive künstlichem Staub auf der Flasche) und schmeckt ausnahmslos wie Essig, der in alten Schuhen gelagert wurde. Wenn es ein besserer ist.

Absingen. Es gibt meistens eine riesige Auswahl an unterschiedlichsten Songs samt Video. Es gibt ALLES – so lange es chinesisch ist. 30.000 Songs sind Standard, als Westler hat man meist die Wahl zwischen Frank Sinatra (sichere Wahl auch mit 2 Promille und mit einfachem Brummen zu überstehen), 90er Jahre Krachern wie Guns N Roses oder ein bisschen Rap (Tipp: SCHLECHTE Wahl wenn man eh schon nicht singen kann und betrunken ist). Chinesen wählen häufig Lieder über Liebe und Leid und singen fast ausnahmslos erstaunlich gut. Nicht-Singen geht gar nicht – jedoch ist sogar die Leidensfähigkeit betrunkener Chinesen begrenzt: mehr als einmal musste ich nur sehr selten singen.

Abhauen. Auf ein mit unbekanntes Signal hin hört auf einmal alles auf. Beleuchtung auf Tageslicht und die Rechnung kommt. Die es meistens in sich hat: einfache Cashbox (Kategorie A) kosten 100-300 Yuan die Stunde geht also noch.
KTVs mit Begleitung kosten aber deutlich mehr. In einer der edleren kostet die Miete etwa 7000-9000 Yuan (700-900 Euro), kann aber auch bis zu 200.000 kosten. Getränke sind auch nicht billig, zwischen 600 und 48000 Yuan ist alles dabei. Zudem noch Trinkgelder für alle Beteiligten. Ein lustiger Abend kostet damit schnell mal 600-800 Euro.

Aber das war es den Spaß ja auch Wert.