Diese Frage stellt sich hier wohl jeder Westler mehrmals am Tag. Das Rumspucken. Das Überfahren. Das Komatrinken. Die Starkstromleitungen im Garten. Die Mutter mit Kleinkind auf dem Roller und Top-Speed durch fünf-spurige Straßen. Die verdammte Singerei. Die Standardantwort, die sehr oft das Gegenteil bedeutet („Kein Problem.“). Die gefälschten Nahrungsmittel. Die Gafferei, statt zu helfen bei Unfällen. Die Ferraris in pink-metallic. Die Liste ist sehr, sehr lang.
Nun sollte man ja immer erst vor der eigenen Tür kehren. Wie mir viele Chinesen versicherten, halten sie vieles von dem, was wir in Europa so tun, auch für ziemlich gaga. Die Kehrwoche. Die GEZ. (was ich beides übrigens auch nicht verstehe). Schimmelkäse. Altersheime. TÜV. Nackt am Strand die Haut verbrennen. Speisen individuell bestellen. Die Freiwillige Feuerwehr. Kirchensteuer.
Es gibt eben doch kulturelle Unterschiede. Allein beruflich muss ich dem Denken hinter all den Merkwürdigkeiten auf den Grund gehen. Wir befassen uns viel mit Consumer Insights, also Erkenntnissen über Einstellungen und Gedankenkonstrukte, die Verhaltensweisen erklären. Dabei habe ich den letzten 18 Monaten gefühlte hundert Bücher zu dem Thema gelesen, die jedoch oft eher an der Oberfläche kratzen. Oder ich falle einfach zu leicht auf Buchtitel herein. Gerade jetzt jedoch lese ich ein Buch, das wirklich mal heraussticht und bei dem ich mich schon mehr als einmal dabei ertappt habe zu denken „Aaaaahh, deshalb. So macht es fast sogar Sinn.“.
Das Werk trägt den hübschen, weil so subtilen Titel „The Geography of Thought : How Asians and Westerners Think Differently…and Why“ und ist von Richard Nisbett, einem US-Psychologen der ohnehin schon mal sehr, sehr smart ist.

(Quelle: http://www.goodread.com)
Ich bin noch nicht mal ganz durch, aber schon auf den ersten hundert Seiten zieht er ein paar schöne Parallelen, die zumindest erklären warum uns China manchmal so wirr scheint. Zudem habe ich zusätzlich versucht, mir ein paar eigene Reime zu machen. Das ist aber ein wenig so, als würde ich einem Elektriker erzählen, das ich auch schon mal einen Lichtschalter bedient habe. Chinas Denken in Kurzform:
Andere Antike, andere Gegenwart.
Wenn man sich RTL2 ansieht fällt es schwer zu glauben, aber vieles von dem was unser Denken bestimmt, stammt noch immer von den Griechen: Logik. Dingen auf den Grund gehen. Regelmäßigkeiten finden und Ursachen untersuchen. Die Welt versuchen zu erklären. Individualismus. Das alles war China schon in der Antike schnurz. Die Welt zu verstehen und Gesetzmäßigkeiten waren längst nicht so wichtig wie ganz pragmatische Erfindungen. Auf das Schießpulver kommt man auch ohne das Sonnensystem in Zahlen ausdrücken zu wollen. Und in China hat man sehr, sehr viel erfunden.
Alles in China hatte immer einen pragmatischen Grund. Interessanterweise war es wohl häufig auch so, daß man in China viele Dinge schon viel früher als in Griechenland erkannt hat, man es aber nicht so wichtig fand. Z.B. hat man auch in China schon festgestellt, daß Kometen komisch sind. Antike chinesische Philosophen haben deren Erscheinen meist mit irgendeinem Ereignis kaiserlicher Relevanz verknüpft. Komet kommt und kündigt damit die Geburt eines Nachfolgers an. In dem Moment, in dem sie herausgefunden haben, daß das regelmäßig passiert, haben sie das Interesse verloren. Aus unserer Sicht ein wenig so, als hätte Newton gesagt „Gravitation? Witzig, aber ein Eierkocher wäre spannender.“ Aus chinesischer Sicht unverständlich, warum man sich über etwas Gedanken macht, daß so wenig mit dem täglichen Leben zu tun hat.
Individuum vs. Kollektiv.
In der westlichen Welt war das Individuum meistens wichtiger als das Kollektiv. Vielleicht mal von den paar Hundert Jahren finsterem Mittelalter abgesehen. Ich bin für mein Handeln verantwortlich und damit auch für die Resultate. Egoismus ist ok, so lange er keine ethischen Grenzen überschreitet. Die zehn Gebote sind eher Richtlinien gegen Massaker als wirkliche Lebenshilfe (spricht der Atheist, das mögen andere anders sehen).
In China ist das Kollektiv wichtig. Verschiedene Zirkel die harmonisch im Einklang gehalten werden müssen. Die Familie, die Dorfgemeinschaft, das Volk. Die harmonische Gesellschaft ist noch immer das wichtigste Ziel hier in China – selbst 5000 Jahre später. Yin und Yang sind deutlich mehr als ein cooles Logo – es ist die Auffassung, das alles im Gleichgewicht sein sollte. Alles was man tut, ist im Kontext zu sehen. Irre aufwändig und erklärt zumindest mal die tausend verschiedenen Möglichkeiten das Gesicht zu verlieren. Ausnahmen scheinen zumindest das Schlangestehen in der Metro und der Straßenverkehr zu sein.
Mir san mir.
Lucian Pye war China-Experte und hat es sehr schön formuliert: „China ist keine Nation, China ist ein Volk.“. Genauer: das Volk der Han. Als Volk haben die Han-Chinesen viel mit den Bayern gemein: wir hams erfunden, wir sind an der Spitze und wer nicht schon mindestens 300 Jahre hier lebt, gehört auch nicht dazu. Dabei hat China schon früher ganz eigene Umgangsformen entwickelt. Imperialismus wie in Europa hat hier nie stattgefunden. Was ja schon mal höflich ist. In über 5000 Jahren ist hier zumindest bisher niemanden eingefallen, mal irgendwo einzufallen um die Flagge in fremde Länder zu pflanzen. Wovon sich Deutschland, Frankreich, England, Spanien, Portugal und fast alle anderen westlichen Ländern mal was hätten abgucken sollen. Einmal sind die Chinesen auf Tour gegangen (übrigens weit vor Columbus mit weitaus moderneren Schiffen), wollten dabei aber eher den Anrainern vom Glanz Chinas berichten, als irgendjemanden auszunehmen oder gar etwas mitgehen zu lassen. Der Kommentar chinesischer Gesandter beim Anblick der ersten Giraffe war ein lapidares „dafür haben wir auch ein Wort und haben das Tier irgendwie kommen sehen.“
Im 19. Jahrhundert haben es dann die Briten mal probiert und dem chinesischen Kaiser modernste Technik gegen Handelskonzessionen angeboten. Die Antwort Chinas war sinnngemäß „drollig, aber wir brauchen nichts.“. Wonach dann England beschloss, die Argumente mit einer Armada von Kriegsschiffen zu verstärken.
Zusammengefasst: nach Ansicht Chinas ist man eh schon die Spitze der Entwicklung und auf Hilfe anderer wahrlich nicht angewiesen. Was auch erklären würde, warum Expats zwar freundlich, aber auch nicht gerade überschwänglich erwartet werden.
Ich bin auf weitere Erkenntnisse gespannt. Ganz werde ich das Land sicher nie verstehen, aber ich würde es wirklich gerne probieren.